Tortur mit schöner Aussicht

Der Januar ging gut los: mit einem Festival der Aerosol-Therapie. Alle vier durften wir – teils parallel, teils nacheinander – daran teilnehmen. Husten, Schnupfen, Heiserkeit … dafür gibt es gemäß italienischen Kinder- und Hausärzten nur die eine alternativlose Tortur, sorry, Therapie: Aerosol. So sagt man hier zur Inhalation medizinischer Lösungen mit einem Inhalationsgerät, wahlweise durch den Mund oder die Nase, gern auch zusätzlich als Nasendusche. Während Stiftung Warentest den Deutschen erklärt, wann ein solches Gerät überhaupt sinnvoll ist, ist der Besitz eines medizinischen Verneblers in Italien ungeschriebenes Gesetz. Man könnte es sich auch in der Apotheke ausleihen, aber das rentiert sich nicht, denn man braucht es bei einer mehrköpfigen Familie mehrmals im Jahr.

Als ich Kind war in der DDR, war das Gesichtsdampfbad das Hausmittel der Wahl. Einfach und immer anwendbar: Ein paar Tropfen Kamillenessenz ins heiße Wasser, Haare mit einem Klapsband aus der Stirn, Handtuch über den Kopf und Kopf über die Schüssel. Das Versprechen, dass der Dampf auch schöne Haut mache, half sicher, dass ich mich als Mädchen gern und ohne große Fisimatenten der Prozedur unterzog. Wenn es schlimmer war, der Husten störrisch, erinnere ich mich an einen weißen Hustensaft, der immer irgendwie half. Nur ein einziges Mal in meiner Kindheit wurde mir Aerosol-Therapie verschrieben. Die bekam ich in der örtlichen Poliklinik, musste dort ein- oder zweimal am Tag antanzen und mich vor eine entsprechende Apparatur setzen. Danach hatte ich dieses Erlebnis schnell verdrängt.

Bis ich nach Italien kam. Bei meinem Arbeitgeber AVON gab es den wunderbaren Service einer wöchentlichen Hausarztsprechstunde während der Arbeitszeit. Zusätzlich hatte eine Krankenschwester stundenweise Dienst, bei der man, ebenfalls während der Arbeitszeit (im Nachhinein erkennt man, wie gut man es hatte) die verschriebenen Behandlungen bekam. So ging ich einmal eine Woche lang zur Aerosol-Therapie. Dann geriet die Sache wieder in Vergessenheit, bis ich Mama und zu den gängigen Standards verdonnert wurde. Unsere Pediatra (Kinderärztin) machte eine klare Ansage: Sie brauchen ein Aerosol-Gerät. Eine nette Nachbarin, deren Kind ein Jahr älter und bereits ein Aerosolveteran war, borgte uns ihre Vorrichtung, die sie wahrscheinlich von ihren eigenen Eltern geerbt hatte. Wir waren dankbar und trotzdem verzweifelt. Halte mal einem Baby oder Kleinkind anstrengende fünf Minuten lang eine dampfproduzierende Maske ins Gesicht, die an einem Gerät hängt, das einen Höllenlärm veranstaltet. Wir schwitzten Blut und Wasser und ließen uns schnell überzeugen, anstelle des klassischen Kolbenverneblers für uns selbst einen leiseren Ultraschallzerstäuber anzuschaffen, koste er, was er wolle (und damals kostete er noch sehr viel). Siebzehn Jahre später sind wir stolze Besitzer des bereits dritten Ultraschallzerstäubers, denn diese haben leider eine begrenzte Lebenszeit wie andere Elektrogeräte auch.

Noch immer stöhne ich, wenn ich beim Arzt das Wort Aerosol höre. Das Trauma sitzt tief nach zweimal drei ersten Lebensjahren, in denen uns immer wieder zwei bis drei Sitzungen über fünf bis sieben Tage die Nerven raubten. Ab einem bestimmten Alter gab es dann die pädagogisch weniger lobenswerte, aber für alle Beteiligten befreiende Lösung, die Kinder zum Inhalieren vor den Fernseher zu setzen und ihren Lieblingstrickfilm schauen zu lassen. Mittlerweile müssen wir zwar immer noch mehrmals „Miracoli, ach nein, Aerosol ist fertig!“ rufen, aber dann fügen sich die Patientinnen ergeben in ihr Schicksal. Als nun die Jüngste gerade eine Inhalationskur machen musste, sah ich sie an einem Morgen mit dem Schlauch vor Mund und Nase am Balkonfenster sitzen und andächtig in die Ferne schauen. Es war ein eisig kalter, aber sonniger Januarmorgen mit wunderbarem Blick auf die Alpen, auch wenn ihr die in meinem Foto nicht erkennen könnt. Glaubt mir, die Szenerie war so schön, dass ich sagen musste: Weißt du überhaupt, wie gut du es hast? Natürlich wusste sie es nicht, verschnupft wie sie war. Ich erklärte es ihr: „Fai aerosol con bella vista!“ Du machst Aerosol-Therapie mit schöner Aussicht. In Mailand würden sie das als Wellness-Behandlung deklarieren und dafür extra Eintritt verlangen. Unsere Tochter lächelte nur gequält. Irgendwann wird sie es verstehen.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

29 Kommentare zu „Tortur mit schöner Aussicht

  1. An das Kamillenblütendampfbad erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Ein Topf mit Deckel, darüber der Kopf des erkälteten Kindes, also meiner Schwester oder mir, darüber ein großes Handtuch. Im Verlauf des Dampfbades wurde der Deckel immer ein Stückchen weiter geöffnet, bis die Hitze erträglich war und er ganz abgenommen werden konnte. Gute Besserung 🍀🍋

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  2. Kamillendampfbad gibt es bei mir in hartnäckigen Fällen immer noch, auch meinen Mann verdonnere ich dazu. Aerosol wurde mir auch schon verschrieben, es war kein Genuss. Die ersten Male war mir fast egal, wovon ich husten musste. Aber nach ein paar Sitzungen wurde es erträglicher und es half.

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    1. Habe auch gerade eins gemacht, ein Dampfbad. Eigentlich ist es ja „invasiver“, Gesicht und Haare betreffend. Aber beim Aerosol ist es wohl vor allem die Technik, die mich abschreckt.

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  3. Ich habe als Kind auch mit Handtuch über dem Kopf über heißem Wasser in einer Schüssel gehangen und inhaliert. Daran kann ich mich noch gut erinnern. Und so ein Inhaliergerät besitzen wir auch, seitdem unsere älteste Tochter als kleines Kind immer mal wieder mit Bronchitis und sogar einer Lungenentzündung zu kämpfen hatte. Gott sei Dank hat sich das irgendwann erledigt, denn bei uns war es auch eher diese Qual, die du geschildert hast …!

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    1. Und jetzt, was verschreibt der Kinderarzt bei Husten? Meine Nichte hat ein angeblich omnipotentes Hausrezept: Zwiebelsaft mit Zucker. Ob ich den anstelle des Aerosol mal ausprobieren möchte? Ich überlege noch. 😉

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      1. Das mit dem Zwiebelsaft habe ich auch schon mal gehört, aber nie ausprobiert. Liegt vielleicht auch daran, dass meine Kinder wirklich selten krank sind. Toi, toi, toi!

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      2. Das bleibt hoffentlich so, liebe Sophie! Auch bei uns ist eine Entspannung im Vergleich zum Kleinkindalter festzustellen.
        Aber in diesem Januar hat die Grippe in Italien zugeschlagen, da spielte das Alter keine Rolle. Wer nicht bei drei auf dem Baum war, zack.

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  4. Ich gehöre eindeutig zur handwerklichen Generation: also dampfende Schüssel, Kopf drüber, und übers Ganze dann noch das Handtuch. Es war furchtbar. Kein technisches Hilfsmittel weit und breit! Da macht irgendeine Firma sehr gute Geschäfte, oder?

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  5. Aerosol-Therapie – das ist an mir vorbeigegangen. Eignet sich offenbar gut für ein handfestes Trauma. Es erinnert mich an die Nasensauger für Babys, die man an den Staubsauger anschließt. Ein Höllenlärm und irgendwie monströs und Trauma inbegriffen. Allerdings scheint deine Tochter eine gute Strategie gefunden zu haben. Gute Besserung!

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  6. Mehrmals täglich? Da sitzt der Rotz aber arg fest, oder? Handtuch und Dampfbad nutze ich heute noch manchmal, die Nummer mit dem Zerstäuber finde ich aber auch nett. Mache es nur zu selten, weil ich ja gerade in diesen fünf Minuten meist noch was anderes zu tun haben glaube. 🙂

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    1. Ich verstehe dich nur allzu gut. Ich schlucke auch lieber eine Tablette oder nehme ein paar Tropfen, als solche Prozeduren abzusitzen. Ist hier aber nicht die gängige Kultur. Man verordnet Aerosol, und basta. 🤷‍♀️

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