Die Geschichte mit dem Weihnachtsmann

Welche Vorstellung hatte ich als Kind in der DDR von Italien? Das habe ich mich schon oft gefragt, jetzt, da ich hier lebe, und finde keine befriedigende Antwort. Manchmal versuche ich, mich anhand einzelner Themen an meine Erinnerungen heranzutasten. Ein besonders gut geeignetes Thema ist zweifelsohne die Musik. Wir kannten auch in der DDR italienische Popsänger. Albano und Romina Power, Adriano Celentano (den „gezähmten Widerspenstigen“ liebten wir vor allem als Schauspieler), Ricchi e Poveri. Und, ganz großes italienisches Kino: Milva. Die Signora mit der roten Mähne und der tiefen Stimme, mit ihrem unnachahmlichen Akzent. „Hurra, wir leben noch“ war meine innere Tapferkeits-Hymne nach jedem Zahnarztbesuch. All diese Künstler durften im DDR-Fernsehen auftreten. Mein Mann vermutet, weil sie „fortschrittlich“ gesinnt waren, nicht notwendigerweise erklärte Kommunisten, aber sie passten unseren Oberen mehr oder weniger in den ideologischen Kram. Natürlich machte ich mir als Kind solche Gedanken nicht …

Eine erste literarische Begegnung mit Italien hatte ich wahrscheinlich schon sehr früh, deshalb kann ich mich nur vage erinnern, und auch nur, weil ich diese Geschichte jetzt meinen Italiener-Kindern im Rahmen des „Mutti-liest-deutsch-vor“-Bildungsprogramms vortrage. Die Geschichte heißt „Antonella und ihr Weihnachtsmann“, ich habe sie in der Sammlung „Die schönsten Kindergeschichten der DDR“ vom KinderbuchVerlag wiedergefunden. Barbara Augustin erzählt auf anrührende Weise von dem kleinen Mädchen Antonella, das in einem italienischen Fischerdorf am Meer wohnt, und deren Eltern sich den „Zuschuss“, den der Weihnachtsmann für die Geschenke erwartet, nicht leisten können. Tieftraurig sieht Antonella, wie ihr bescheidener Wunschzettel viele Tage lang auf dem Fenstersims liegt, ohne dass ihn der Weihnachtsmann abgeholt hätte. Ihr Versuch, ihn per Brief bei der Post aufzugeben, scheitert daran, dass Antonella die Adresse des Weihnachtsmanns nicht kennt. Aber dann kommt der nette Luftballonverkäufer auf eine geniale Idee …

Nun will ich hier nicht die ganze Geschichte verraten, aber sie geht natürlich gut aus. Interessant ist, wo Antonella ihren ganz persönlichen Weihnachtsmann findet: im Ostblock. Ungarische Schulkinder haben Mitleid mit der armen italienischen Fischerstochter und nehmen die Sache in die Hand. Warum waren es keine französischen Kinder? Oder kleine Helfer in Griechenland? Weil die auch eher arm waren? Ein bisschen Klischee steckt schon drin, aber das verzeiht man der herzerwärmenden Geschichte gern.

Manchmal frage ich mich, ob das auch andersherum funktioniert hätte. Wäre ein Weihnachtspaket aus Italien bei uns angekommen? Da habe ich Zweifel, kommen mir doch sofort die ausgeklügelten Kontrollen der DDR-Staatssicherheitsorgane in den Sinn. Ich erinnere mich, wie ich einmal ein kleines Paket von meiner bulgarischen Brieffreundin ‒ also aus einem sogenannten Bruderland ‒ bekommen hatte, das unterwegs geöffnet worden war. Einem bulgarischen Trachtenpüppchen war der Kopf abgetrennt worden, es hätte ja etwas Verbotenes drinstecken können. Ich weinte sehr, aber vor allem war ich wütend. Ein Gefühl, das ich unterdrücken musste, weil wütend damals keine angemessene Reaktion war. Es hatte schon alles seine Richtigkeit, wenn es so gemacht worden war. Wer weiß, was so alles in unser Land geschmuggelt wurde, getarnt als harmloses Souvenir.

Wenn es um Geschenke und Päckchen geht, erinnere ich mich freilich auch an anderes. Vor Weihnachten schickten wir immer Spielzeug an die Kinder in Afrika. Die Sammlung und der Versand wurden über die Schulen und Kindergärten organisiert. Ich hoffe, unsere Päckchen kamen in den wirklich armen Ländern der Welt unbehelligt an und haben dort Freude bereitet. Ob die Kinder, die das Spielzeug erhielten, auch dachten, es käme vom Weihnachtsmann?

Ich fürchte, sie wussten gar nicht, dass es einen gibt.

Fotos: Cover und Seiten aus „Erzähl mir vom kleinen Angsthasen. Die schönsten Kindergeschichten der DDR.“ Der KinderbuchVerlag, 2009. Darin die Erzählung „Antonella und ihr Weihnachtsmann“ von Barbara Augustin mit Illustrationen von Gerhard Lahr.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

4 Kommentare zu „Die Geschichte mit dem Weihnachtsmann

  1. Ich finde es großartig, dass Du Deinen Kindern vorliest und wenn Du ihnen so auf spielerische und unterhaltsame Weise auch noch etwas über Deine Wurzeln und Deine eigene Kindheit vermitteln kannst, ist das einfach nur wunderschön. Liebe Grüße!

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    1. Ja, das bietet sich an. Meine Große liest mittlerweile selbst, italienisch oder deutsch, sie ist ein richtiger Bücherwurm. Für die Kleine ist es mit neun Jahren noch nett, ihr zum Schlafengehen etwas vorzulesen. Gerade lese ich ein richtig altes Kinderbuch, Ende der 50er-Jahre verfasst. Es ist so reizend geschrieben, es gefällt ihr prima. Und was für sie komisch klingt, erkläre ich ihr. Liebe Grüsse zurück und einen schönen Abend, Barbara!

      Gefällt 2 Personen

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