Im Homeoffice fehlen mir die Gespräche mit Kollegen in der Kaffeepause sehr. Besonders die Gespräche nach jenen fünf Abenden, an denen, so könnte man glauben, in ganz Italien dasselbe Fernsehprogramm läuft. Für gewöhnlich im Februar, in diesem Jahr ausnahmsweise vom 2. bis 6. März, werden wieder alle Augen und Ohren auf Sanremo in Ligurien gerichtet sein, wo das 71. „Festival della Canzone Italiana“ ausgetragen wird. Die Rede ist in den Wochen davor und danach einfach von SANREMO oder vom FESTIVAL. Man spricht darüber bei jeder Gelegenheit, gerne während der Kaffeepause.
Das italienische Songfestival ist nicht nur der bedeutendste Wettbewerb nationaler Popmusik, sondern auch das älteste seiner Art in Europa. 1951 ging die Veranstaltung in Sanremo erstmals über die Bühne, seit 1977 im legendären Ariston Theater.* Übrigens ist es der Sieger von Sanremo, der beim Eurovision Song Contest für Italien antritt.
Aus meinem persönlichen Blickwinkel der letzten Jahre betrachtet, wirkt das Festival wie eine Art Italien im Miniaturformat, wie ein Spiegel der italienischen Befindlichkeiten. In meinen Augen ist Sanremo mehr als ein Wettbewerb:
Sanremo ist wundervolle Musik. Die Italiener haben im Allgemeinen ‒ für mein Empfinden ‒ eine positivere Beziehung zu Songs in ihrer Muttersprache als die Deutschen. Dass ich selbst ein Riesenfan italienischer Popmusik bin, habe ich vielleicht schon erwähnt und werde es an anderer Stelle noch ausführlicher erklären.
Sanremo ist eine glanzvolle Gala. Da werden neue Moden vorgeführt und Frisurentrends** gesetzt, in atemberaubender Kulisse Eleganz und guter Geschmack gefeiert. Mit Ausnahmen natürlich, diese aber als gewollte Provokation, nie aus Unvermögen.
Sanremo ist großes Theater. Wie der Italiener sagt, ein „Spettacolo“. Im Deutschen nennen wir es Show. Und zwar eine der Eitelkeiten, der VIPs und Stars und, natürlich, der kommerziellen Interessen.
Sanremo ist eine Bühne für albernen Gossip und kleine Skandale, manchmal für echte Dramen.
Sanremo ist ein Podium, gelegentlich, für Gesellschaftskritik und politische Statements einzelner Gäste.
Sanremo ist Gesprächsthema. An langen Abenden wird mit illustren, teils internationalen Gästen zwischen den wettstreitenden Musiktiteln viel geboten, worüber am Tag danach auf allen Kanälen und vorm Kaffeeautomaten diskutiert werden kann. Hast du DIE gesehen? Das Kleid/die Frisur? Unmöglich, oder? Wie fandest du die Andeutungen von DEM, musste das sein? Recht hat ER/SIE, bin mal gespannt, wie DER/DIE oder MAN, die Öffentlichkeit, darauf reagiert.
Sanremo ist eine merkwürdige Mischung. Mich interessieren die Künstler, die teilnehmenden Interpreten und ihre Lieder, die wundervolle Begleitung durch das Orchester, Gastauftritte von Schauspielern und anderen Persönlichkeiten, die wirklich etwas zu sagen haben. Die gibt es immer, aber ihre Auftritte gehen oft unter in all dem anderen, im Zuviel. Sie gehen unter zwischen die Treppe mit zu hohen Absätzen herunterstolpernden VIP-Damen, zwischen zu straff drapierten und zu tief ausgeschnittenen Kleidern der Moderatorinnen, zwischen ausufernden Abschweifungen des Moderators und endlosen Dankesreden.
Mein tatsächliches Problem mit Sanremo ist jedoch ein anderes: Es sind die Sendezeiten. Jeder Abend zieht sich unsäglich in die Länge, oft geht es weit über Mitternacht hinaus. Ich möchte mal wissen, wie eine Untersuchung ausfallen würden, in der man die allgemeine Arbeitsproduktivität der Italiener an den Tagen des Festivals misst. Die Nachteulen hängen vermutlich gähnend vorm Bildschirm und verbringen extra viel Zeit in der Kaffeepause (um mein einleitendes Argument wieder aufzugreifen).
Für mich endete das Festival bisher regelmäßig am Morgen nach dem letzten Abend mit der Frage: Wer hat jetzt eigentlich gewonnen? Ich versuchte es aus den Studiogesprächen im Radio herauszuhören. Für 2021 habe ich mir vorgenommen, endlich einmal die Verkündung des Siegers live mitzuerleben. Auch, weil ich am Morgen danach nicht mit dem Auto zur Arbeit fahre und den Studiogesprächen lauschen kann. Das Finale wird pandemiebedingt ohne Zuschauer im Theater, dafür ‒ so mir meine Müdigkeit nicht wieder dazwischenkommt ‒ mit einer Zuschauerin mehr am Bildschirm stattfinden.
Aber zurück zum wunderbaren Anliegen des Festivals, zur Musik. Meine Favoriten unter den Gewinnern der letzten Jahre:
Alexia – Per dire di no (Sanremo 2003)
Marco Mengoni – L’essenziale (Sanremo 2013)
Mahmood – Soldi (Sanremo 2019)
Manchmal gefielen mir die Zweitplatzierten am besten:
Nek – Fatti avanti amore (Sanremo 2015)
Francesca Michielin – Nessun grado di separazione (Sanremo 2016)
Im vergangenen Jahr hat sich der viertplatzierte Titel am tiefsten in mein Gedächtnis gegraben. Ich würde sogar sagen, er hat gute Chancen, dort auch für den Rest meines Lebens einen besonderen Platz einzunehmen. 2020 fand das Festival im Februar gerade noch statt, so wie immer, und wenige Tage darauf war nichts mehr wie immer. Plötzlich hörte ich kaum noch Radio, da ich Radio immer nur im Auto hörte und von einem Tag zum anderen nicht mehr Auto fuhr. Ich setzte mich lediglich einmal pro Woche hinter das Lenkrad, für fünf Minuten, um zum erlaubten Einkauf in den Supermarkt zu fahren. In diesen Wochen der fünfminütigen Autofahrten lief immer ausgerechnet dieser Song im Radio:
Le Vibrazioni – Dov’è (Sanremo 2020)
Im Refrain heißt es: La gioia dov’è? ‒ Wo ist die Freude geblieben? Dieser Titel avancierte zu meinem persönlichen Soundtrack im harten italienischen Lockdown im Frühjahr 2020.***
Wo ist die Freude geblieben … Wird dieses Jahr in Sanremo ein Song gewinnen, der uns die Antwort gibt? Das fände ich genial. In jedem Fall freue ich mich auf großartige Musik und hoffe auf anspruchsvolle, gute Unterhaltung. Mit wem ich dann darüber rede, muss ich noch sehen. Vielleicht verabrede ich mich mit meinem Mann auf eine Kaffeepause in unserer Küche.
*Wer mehr zur wechselvollen Geschichte des italienischen Songfestivals lesen will, dem sei die ausführliche Darstellung auf Wikipedia empfohlen. // **Frisurenmode auf dem Sanremo Festival: Das italienische Haarstyling-Portal estetica.it erinnert in Videoausschnitten an 15 unvergessliche Looks der Interpreten. // ***Im Mai 2020 erzählten mir Umfrageteilnehmer aus Italien und Deutschland von ihren Erfahrungen im ersten Lockdown. Welche Musik sie in dieser Zeit begleitete, könnt ihr hier nachlesen.
Foto: Sanremo 2012, Source: Wikimedia Commons, Author: Zdravko Petrov
Ein schöner Beitrag mit vielem, was mir neu war. Danke dafür!
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Sehr gern! 😊
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Das hört sich sehr interessant an. Noch nie von gehört, aber ich werde es im Auge behalten! 🙂
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Viva la musica! 🎺🎸🎻🎤🎵
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…aber sowas von! 🎉
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Sehr sehr toll beschrieben. 🙂
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Danke! Buona serata! 😀
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Das ist eine sehr schöne Zusammenfassung. 🤩
Ich erinnere mich gut an die albanische Moderatorin Alketa Vejsiu im Jahr 2020. Es war tagelang DAS Thema des Römers. Einerseits platzte er fast vor Nationalstolz, andererseits machte er sich über ihren Akzent und ihre Outfits lustig. Es war ein reines Gefühlschaos im germanoitalbanischen Haushalt. 😄
Dieses San Remo Jahr sollte erträglicher für den Römer werden. 😄
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Oh ja, da war er hin- und hergerissen, das ist verständlich. Zum Glück gibt es keine deutschen Gäste oder Moderatoren, bis jetzt, sonst müsste ich auch zusehen, wie ich mich positioniere. 😂
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😄 Ich sehe es schon vor mir: Helene Fischer bei San Remo. Die Italiener wären verzaubert… oder auch nicht. 😄
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Elena Pescatrice? Sarebbe un successone 😉
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😄 E’ bellissimo!
Solo su “Chi”: Elena Pescatrice – chi e’ la conduttrice tedesca che ha conquistato Sanremo?
😄
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Oh ja, ich sehe sie auch auf den Titelblättern. Komm, lass uns das organisieren. Wenn du Frau Fischer siehst, schlage es ihr einfach vor. Ich schaue hier, was ich tun kann. 😎
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Das mache ich. 🤩 Einer der beiden besten Freunde hatte sie bereits an Bord. Er dachte, sie wäre ein unbegleitetes Kind, da sie so klein und dünn war. 😄 Bis 2022 stellen wir das auf die Stelzen… äh Beine.
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👍😎
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An mir ist das Ganze bisher auch voll vorbeigegangen… 😮😮😮
Ganz liebe Grüße! VVN
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Mein Mann behauptet, über das Sanremo Festival spricht die Welt 😊 Er kannte im Gegenzug bis 2011, seitdem Italien wieder regelmäßig teilnimmt, den ESC nicht.
Liebe Grüße zurück! 😊
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Ich wünsche Dir ein schönes Festival und hoffe, dass einiges davon hier ankommt. 🤩
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Danke! Ja es war eher in früheren Jahren, dass internationale Hits von Sanremo aus um die Welt gingen. An 1981 erinnere ich mich nicht persönlich, aber wir kannten dann selbst in der DDR die Gewinnerin (Alice mit „Per Elisa“) und Zweitplatzierte (Loretta Goggi mit „Maledetta Primavera“). Vielleicht ergeben sich mal wieder so große Erfolge.
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Dazu sage ich nur: „Wenn Zlatan Fehler macht, kannst auch du Fehler machen.“ 😅, Sanremo findet sich auch in meiner Kolumne diesmal dann wieder!
Du hast es schön und treffend beschrieben, liebe Grüße!
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Dankeschön! 😊 Zlatan fand ich witzig, er hat für das Ende der Sportkarriere schon mal einen Fuß ins Showbusiness gesetzt. 😉
Analysierst du die Show linguistisch? Ich bin stolz, das Finale diesmal tatsächlich live verfolgt zu haben. Bis 2.30 Uhr! Solange halt ich es sonst nicht mal Silvester aus. 🥱 Auf sprachliche Feinheiten habe ich nach Mitternacht eher nicht mehr geachtet. Freue mich auf deinen Artikel, liebe Grüße, Anke
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Ja, das stimmt, 🙂 er war lustig, aber irgendwie war seine Rede am Samstag sehr absurd! Ich habe nur einen Abend und nicht bis zum Ende durchgehalten (bin schon aus der Übung ;). Ich bespreche nur Zlatan und die „busselnde“ Ornella 🙂 LG!!
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