Magisches Wasser

Der Italiener und die Heiligen

Montagabend, es geht auf Mitternacht zu. Ich liege längst im Bett, schaue aber noch schnell – Asche auf mein müdes Haupt – die letzten Updates auf dem Handy durch. Der Status einer italienischen Freundin weckt meine Neugier: Er zeigt das Foto einer Wasserschale, in der Blüten und Blätter schwimmen. Dazu schreibt sie, dass bei ihnen in Kalabrien, aber auch in anderen Regionen Italiens, an diesem Abend das Acqua di San Giovanni zubereitet wird. Es ist der 23. Juni. Am Tag darauf feiern die Giovannis ihren Namenstag. Meine Freundin schließt eine kurze Erklärung an, für alle wie mich, die weder Namenstage im Kopf noch jemals von diesem Blütenwasser gehört haben: Das „Acqua di San Giovanni“ (Johanniswasser) ist eine in Mittel- und Süditalien weit verbreitete Tradition, die mit der Nacht vom 23. auf den 24. Juni und dem Heiligen Johannes verbunden ist. Nach Sonnenuntergang werden Wildblumen und Kräuter gesammelt, die man in Wasser über Nacht im Freien stehen lässt. Am Morgen wäscht man sich mit dem duftenden Wasser, das als glücksbringend und reinigend gilt, Hände und Gesicht.

Schön, denke ich, aber warum postet sie das erst so spät? Ich müsste längst schlafen, doch diese nette Idee lässt mir keine Ruhe. Meine Begeisterung ist geweckt. Ein bisschen Glück könnte nicht schaden, und eine rituelle Reinigung kostet im Spa oder Wellness-Tempel ein Heidengeld. Die Tradition sieht sicherlich vor, dass man gemeinsam kurz nach Sonnenuntergang barfuß über die Wiesen läuft, die kühle Abendluft genießt, singend oder plaudernd Blüten und Kräuter sammelt und dann zuhause die Wasserschale vorbereitet. Ich bin allein, bereits im Pyjama und habe keine Wildblumen- und Kräuterwiese vorm Haus. Aber ein paar Küchenkräuter und Blumen auf dem Balkon. Gedacht, getan. Ich schnappe mir eine Schüssel und tapse im Dunkeln von Pflanzkübel zu Topf und pflücke, was da ist: Basilikum, Kapuzinerkresse, Rosmarin und Flockenblumen. Ich gebe Wasser dazu und stelle den magischen Ansatz draußen auf den Tisch. Zurück im Bett grinse ich innerlich und schlafe mit Vorfreude schneller ein als gewöhnlich.

Am Morgen wache ich vor dem Weckerklingeln auf und laufe als erstes zum Balkon. Das Ergebnis der nächtlichen Aktion seht ihr im Titelbild. Das Wasser ist noch kühl und wunderbar aromatisch (Rosmarin!), ich genieße Frische und Duft wie eine Wellnessbehandlung. Den Wohlfühleffekt habe ich sicher und starte mit Freude in den Tag. Im Büro gratuliere ich meinem Kollegen Giovanni zum Namenstag. Der staunt nicht schlecht, denn er kennt mich als eine, die diesen Anlässen keine Bedeutung schenkt. Und wer weiß, ob es mit dem Zauber des magischen Wassers zu tun hat: In einer belastenden Angelegenheit bahnt sich am Nachmittag des Johannistages unerwartet eine Lösung an.

Sicher gibt es noch viele italienische Bräuche zu entdecken, die mit den Heiligen und deren Namenstagen verbunden sind. Ich werde in Zukunft mehr darauf achten. Eine besonders kuriose Tradition ist mit der Region Lombardei und speziell Mailand, der Heimat des klassischen italienischen Weihnachtskuchens Panettone, verbunden. Zu San Biagio am 3. Februar, dem Fest des Heiligen Blasius, werden Reste davon in die Kirche gebracht und gesegnet. Es heißt, dass der Verzehr des gesegneten Panettone, der von den Weihnachtsfeiertagen übriggeblieben ist, vor Halsschmerzen und Erkältungen schützt. Davon hörte ich in diesem Jahr zum ersten Mal im Büro, als eine Kollegin einen halben Panettone mitbrachte. Was für ein Quatsch, dachte ich, nahm aber ein Stückchen zum Kaffee. Was soll ich sagen? Bei mir hat es funktioniert. Ich schlug mich Anfang des Jahres mit mancherlei Beschwerden herum, Halsschmerzen gehörten nicht dazu.

Mein Fazit: Her mit den alten Bräuchen, mögen sie noch so verrückt erscheinen! Ein bisschen Magie im Leben hat noch keinem geschadet.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

32 Kommentare zu „Magisches Wasser

  1. Was für eine wunderbare Tradition, liebe Anke. Klar, dass man dafür im Dunkeln auf den Balkon tappst. Ich hätte es genau so gemacht. 🤩 Viele Grüße und möge dir das Glück gleich doppelt hold sein, Eva

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      1. Das dachte ich mir fast. Das Gedeihen des Kindes ist gegenwärtig Hauptaufgabe und füllt den Tag aus. Gute „Aufzucht“ weiterhin, liebe Eva!😍

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      1. Ja, danke. Wir sind hier in der Lombardei nicht betroffen, in Bergregionen nahe Turin und in Südtirol gab es Probleme.
        Liebe Grüβe!

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  2. Mir gefällt, dass du dich auf die unbekannte Tradition eingelassen hast. Allein der Anblick deines Blütenwassers ist eine Augenweide. Ich bin mit Johanni, wie wir sagen, durch die Schule meiner Kinder in Berührung gekommen. Es ist der Tag, an dem der Geburt Johannes des Täufers gedacht wird. Ich erinnere mich noch an das Johannisfeuer, das auch mit der Sommersonnenwende zu tun hat. Mir wird an solchen Anlässen bewusst, wie wenig ich von vielen Traditionen weiß.

    Liebe Grüße aus Apulien

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    1. Ja, zur Sommersonnenwende gibt es viele Traditionen. So ein Feuer stelle ich mir bei der Hitze, die wir gerade haben, aber nicht so angenehm vor. Ich hoffe, du findest in Apulien auch schattige Plätzchen! Liebe Grüße in den Süden!

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  3. Cool, dass du das gemacht hast! Solche Rituale/Bräuche haben doch was. Hier im sandigen Brandenburg schafft es der Johannestag nur wegen des Endes der Spargelsaison in die Nachrichten und das ist mir total egal. Einmal war ich zu der Zeit in Portugal, da wurde in São João reingefeiert mit Musik, Tanz, Feuerwerk und man schlug sich mit aufblasbaren Hämmern auf die Köpfe. Vergesse ich nie. 🙂

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    1. Dass es bis in den späten Juni hinein Spargel gibt, hätte ich nicht gedacht. Ich kannte diesen Tag und Zusammenhang nicht, obwohl ich auch aus dem Brandenburgischen stamme.
      Mit Gummihämmern auf den Kopf schlagen … soll auch eine Bedeutung haben oder gar Glück bringen?🤨😅

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      1. Ich stamme aus Sachsen-Anhalt und wir hatten unseren eigenen Spagel im (Riesen-)Garten. Da hat mein Opa immer drauf geachtet, dass nur bis „Johanni“ gestochen wurde.
        Stimmt, die Gummihämmer sollen Glück bringen, sehr lustig waren sie auf jeden Fall.

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    1. Stimmt. Mal sehen, ob ich im nächsten Jahr im Juni dran denke.
      Genieße den Wind um die Nase, liebe Bettina, wir schwitzen uns gerade die Seele aus dem Leib. 😓

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  4. Eine gute Idee, ich habe mir gerade einen erklärenden Ausschnitt deines Artikels in meinen Terminkalender für das nächste Jahr kopiert.

    Das mit dem duftenden Kräuterwasser möchte ich auch mal ausprobieren… 🙂

    Danke für den schönen Artikel

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