Rosso Relativo oder mein verbotener Bummel durch Mailand

Einen Termin? Wozu? Wie heißen Sie? In meiner Liste stehen Sie nicht.

Der adrette Security-Beauftragte vor dem Gebäude des Deutschen Konsulats Mailand schüttelt bedauernd mit dem Kopf und zeigt mir seinen Zettel mit der Namensliste als Beweis, dass ich mich irre.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht bei einer deutschen Behörde, mit der ich im Vorfeld mehrere E-Mails ausgetauscht hatte, um mein Anliegen, die Ausstellung des neuen Reisepasses, im kleinsten Detail vorzubereiten. Abgewiesen zu werden, mit der Begründung, mein Termin resultiere nicht im System, das kannte ich von italienischen Ämtern. Heute hätte ich mir eine solche Situation im schlimmsten Albtraum nicht ausgemalt. Demzufolge war es reines Glück und keine weise Voraussicht, dass ich die E-Mail mit der Bestätigung meines Termins ausgedruckt hatte und mitführte. Diese war als Anlage zu meiner Autocertificazione (Selbstbescheinigung) gedacht, als Beweis bei einer eventuellen Polizeikontrolle, um mein Spostamento (Ortswechsel) über die Grenze meiner Kommune hinaus begründen zu können. Ecco! (Hier!) Innerlich um Fassung ringend, übergebe ich dem freundlichen Wachmann mein Beweispapier.

Warten Sie bitte hier.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits anderthalb Stunden in der Umgebung des Konsulats gewartet, da würden weitere Minuten bis zur Klärung meines Anliegens und dem erhofften Einlass mich nicht aus dem Konzept bringen. Die Mittagssonne beginnt allerdings, lästig zu werden. Ich widerstehe dem Drang, mich in den Schatten und damit außer Sichtweite zu begeben, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich hätte aufgegeben. Zuversichtlich halte ich meine Position. Urplötzlich kriecht ein beißender Geruch in meine Nase, die klare Frühlingsluft füllt sich mit Rauch. Wo der herausquillt, kann ich nicht erkennen. Schon kommt der Security-Mann aus dem Konsulat gelaufen, gefolgt und unterstützt von einem älteren Beamten. Sie diskutieren, gestikulieren, tigern auf der gegenüberliegenden Straßenseite nervös hin und her, dabei die Dächer der Umgebung inspizierend.

Film ab: Das ist ein Zeichen. Du hast zwar einen Termin, aber du solltest nicht darauf bestehen, vielleicht ist das deine Chance, der Katastrophe zu entgehen und doch nicht Protagonistin in den Titeln der Abendnachrichten zu werden. Brand aus unerklärter Ursache in deutscher Vertretung in Mailand … Eine deutsche Staatsbürgerin mittleren Alters, die genaue Identität konnte noch nicht festgestellt werden, hatte gerade das Gebäude betreten, als …

Schnitt. Der Rauch verzieht sich, der Security-Mann geht zurück ins Gebäude, kurz darauf kommt er wieder heraus und bittet mich freundlich hinein. Noch vor dem Eingang das erste Fiebermessen. Nachdem ich in der Sonne gestanden und um mein Leben gezittert hatte, bin ich froh, diesen Test mit frischer Stirn zu bestehen. Drinnen vor dem Büro noch eine Messung mit einem anderen Gerät, auch diese Kontrolle passiere ich ohne Beanstandungen.

Dann geht alles velocissimo, superschnell. Und zwar auch deshalb, weil man die sorgsam angefertigten Kopien gar nicht haben und die Originale gar nicht sehen will. Die Dame am Schalter, an die ich mich von meinem letzten Besuch zu erinnern glaube, hat meine Akte vor sich liegen und alles schon da. (RANDNOTIZ AN MICH: Bitte in zehn Jahren nicht wieder tagelang nervös im Kreis springen, es ist alles halb so dramatisch, wie es sich in den Merkblättern liest.) Eine kleine Verzögerung im Prozedere ergibt sich nur an der Stelle, als es ums Bezahlen geht. Man bevorzuge die Zahlung per Kreditkarte, hatte es geheißen. Schade, dass das System den Bearbeitungsschritt „Zahlung per Kredikarte“ verweigert. Die nette Beamtin wartet ein wenig, tippt auf der Tastatur, schüttelt mit dem Kopf. Haben Sie auch Bargeld bei sich? Habe ich, und das war wieder keine weise Voraussicht, sondern pures Glück. Immerhin muss ich 89 Euro berappen, soviel muss man erst einmal dabeihaben, oggi come oggi (heutzutage). Zum Beweis und ohne, dass ich darauf bestehe, dreht mir die Beamtin ihren Bildschirm vor die Nase, so kann ich mich persönlich vom Streik des behördlichen DV-Systems überzeugen. Dies ist vielleicht auch ein Unterschied zwischen deutschen und italienischen Ämtern, denke ich bei mir. Die Italiener behaupten ständig, das System sei gerade ausgefallen, oder man stünde doch gar nicht in ihrer Liste. Gezeigt, so wie heute, hat man es mir aber nie. Ich bin erleichtert, alle Hürden überwunden zu haben, dank der lösungsorientierten deutschen Flexibilität. Ja, ihr habt richtig verstanden: Ich möchte meine Landsleute mal loben an dieser Stelle!

Als ich nach fünfzehn Minuten inklusive Toilettenbesuch wieder im Freien stehe, höre ich Feuerwehrsirenen. Ein Löschwagen oder vielmehr dessen Fahrer scheint nicht zu wissen, wo er hinsoll. Leute sprechen von einem indischen Restaurant. Aber die Gefahr hat sich offensichtlich verzogen, kein Rauch mehr, nirgends. Blinder Alarm, zum Glück. Ich atme tief durch, klopfe mir in Gedanken für meine Unerschrockenheit auf die Schulter und genieße auf dem Rückweg den herrlichen azurblauen Himmel im frühlingshaften Milano.

Diesmal ist es nicht wie im März 2020, auch wenn sich Mailand wie die gesamte Lombardei erneut im Lockdown in der roten Zone befindet. Es ist ein „Rosso Relativo“. (Tiziano Ferro möge mir die Anspielung auf seinen frühen Hit verzeihen, der liegt einfach nahe.) Da sind Autos, Busse, Straßenbahnen. Menschen in der Mittagspause, Mütter, die mit ihren Kindern spazieren gehen, ältere Passanten mit Einkaufs-Trolley vor einem Lebensmittelgeschäft, Jogger in den Grünanlagen des Parco Sempione am Castello Sforzesco. Es sind vermutlich bedeutend weniger Menschen als an einem gewöhnlichen Montag in einem März vor der Pandemie, und alle (bis auf die Jogger) tragen einen Mund-Nasen-Schutz. Was die Sinne ablenkt und Normalität vorgaukelt, das sind vor allem die Düfte aus den Bars, Pasticcerias (Konditoreien), Pizzerien und Restaurants, die für Abholung und Straßenverkauf geöffnet sind. Bereits bei meiner Ankunft am Morgen, als ich die Bahnhofshalle der Stazione Milano Cadorna verließ und die Stadt betrat, strömte mir augenblicklich der Duft von süßem Gebäck und Kaffee in die Nase. Da roch und da wusste ich: Mailand ist noch da. Auf dem Rückweg liegt sogar Musik in der Luft. Aus einer Bar nahe der Stazione klingt ein Sommerhit von 2016 und zaubert Strandfeeling auf die graue Straße:

J-AX & Fedez – Vorrei ma non posto (Official Video)

E ancora un’altra estate arriverà …

Ja, ein neuer Sommer wird kommen. Auch in diese Stadt. Ob die Sommer irgendwann wieder so unbeschwert sein werden wie 2016? Speriamo! Hoffen wir’s!

Das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Mailand
Castello Sforzesco
Große Leere vorm kleinen Theater: Piccolo Teatro
Das geschlossene Kino wirbt für die virtuellen Kinosäle iorestoinsala.it
Ab 10. September im Kino? Eher im Streaming.
La Gioia (Die Freude): Vorübergehend geschlossen. (Ristorante)
Eine kleine Modeboutique
Centro Aggregazione Multifunzionale (Multifunktionales Begegnungszentrum): Derzeit ohne Funktion.
Wer sagt, in Mailand gäbe es kein Grün?
Piazzale Luigi Cadorna vor der Stazione Milano Cadorna
Rote Zone: vor der Stazione Milano Cadorna

Fotos: Eigene Aufnahmen vom 22. März 2021. Titelfoto: Via Solferino.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

37 Kommentare zu „Rosso Relativo oder mein verbotener Bummel durch Mailand

    1. Du bist ein aufmerksamer Betrachter. Bravo! Also Feuerwehrleute sind es nicht, das Bild entstand auf dem Hinweg vor dem Zwischenfall. Maskiert sind sie, aber das will ja nichts mehr heißen … es ist heutzutage schwer, Fassadentechniker (?) von Einbrechern zu unterscheiden. Ich hebe es mal gut auf, vielleicht wird es noch mal als Fahndungsfoto gebraucht. 😉

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    1. Da bist du an vielen netten Bars, Gelaterias, Rosticcerias, Trattorias … 😋 vorbeiflaniert. 😎 Leider war ich diesmal im Vergleich dazu aus bekannten Gründen nur in der „Peripherie“ unterwegs, was ich aber auch schon genossen habe.

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  1. Liebe Anke! Danke für diese heutige Dosis italienischer Sommerhits – in Kombination mit dem sonnigen Wetter heute auch nördlich der Alpen, macht das wirklich gute Laune. Und bei „rosso relativo“ könnte man beim schnellen Drüberlesen auch versehentlich an Rotwein denken… 😉 Aber ich weiß schon, das war primitivo und nicht relativo… 😉

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  2. Was du alles erlebst! 🤩 So viel Action, Nervenkitzel und Spannung hatte ich im gesamten letzten Jahr nicht wie du an einem Tag im Konsulat. 😃 Man sieht, du bist ein bürokratischer Vollprofi: Jeglicher Schriftverkehr, Kopien und Dokumente kannst du selbstbewusst vorzeigen und auch der Rauchgeruch bringt dich nicht aus der Fassung. Für mich bist DU der neue James Bond! 😃

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    1. Ich hatte mich schon gefragt, was ich überhaupt schreiben kann, weil bis zum Punkt, an dem die Geschichte einsetzt, alles viel zu glatt gelaufen war: keine Polizeikontrolle, kein Bahnstreik, der Fotograf hatte geöffnet und ich war anderthalb Stunden vorm Termin schon da. Bei strahlendem Sonnenschein. Hätte ich nur die Fotos gepostet. Aber dann … ergab sich doch noch was Nettes 😉

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  3. „Tagelang nervös im Kreis springen“ sehr lustig :).

    Ich habe heute noch Alpträume von italienischen (wahrscheinlich besonders schlimm: sizilianischen) Behörden! EDV kaputt, Drucker kaputt, ein Schalter offen, an dem diskutiert wird, und 30 Wartende. 🙂

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    1. 🙈 Das war der typische Vor-Corona-Horror. Ich hoffe ja, dass die neue aus der Not geborene Lösung, minutengenau Termine zu vergeben und damit wartende Menschenmassen zu vermeiden, beibehalten wird.

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  4. Die Geschichte und die fotografischen Impressionen sind sehr gelungen. Meine Chance, ein bisschen von Mailand zu sehen, hatte seinerzeit Alitalia mir versalzen. Wegen einer Flugplanänderung, die mir das Erreichen meines Anschlussfluges nach Malaga unmöglich machte, hatte ich auf Übernachtung auf Kosten der Fluggesellschaft bestanden, und die waren so „freundlich“ Tochter und mich in einem Konferenzhotel in einem Industriegebiet zig Kilometer außerhalb von Mailand unterzubringen.

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    1. Dankeschön! Es war auch ein dankbarer Tag, Geschichte und Fotos betreffend. 😉 Wir wohnen eine reichliche Zugstunde von Mailand entfernt, aber dieser Ausflug diesmal fühlte sich wie eine Weltreise an, nach all den Monaten daheim.
      Wenn wieder Gelegenheit ist, nimm einen Direktflug Berlin-Mailand, dann bummeln wir gemeinsam durch die Stadt und gehen in die Scala!

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      1. Ich werde es wohlwollend in Erwägung ziehen. Im Moment ist schon ein Friseurbesuch ein Abenteuer, weil man einen tagesaktuellen Corona-Test braucht, und seit diese Bestimmung gilt, sind die Testzentren auf Tage und Wochen ausgebucht, es sei denn, man stellt sich irgendwo in die Warteschlange, wo ohne Termin getestet wird.

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    1. Wer mag schon Behördengänge? 😉 Ja, ich hoffe, wir fahren bald öfter in unsere schöne Regionalhauptstadt, auch ins Theater würde ich gerne wieder gehen.

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      2. Gut möglich. Ich persönlich mag ja auch Sprechtheater, da gibt es ein breites Angebot und bestimmt Karten. 😊 Aber in der Scala sollte man schon einmal gewesen sein. In einer Vorstellung. Zur Besichtigung war ich mal vor vielen Jahren, aber das gilt nicht. 😉

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      3. Zur Besichtigung war ich auch vor vielen Jahren in meiner Ausbildung in der Scala und nebenan ist der Tearoom mit gleicher Einrichtung. Ich kenne noch die alte rote Bestuhlung. Aber Italien hat es ja ein paar schöne Theater. Ich muss schon sagen – mittlerweile bin ich schon hungrig auf Kultur.

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