Es muss Ende April, Anfang Mai gewesen sein, an einem milden Frühlingsabend auf unserer Terrasse. Da lag von einem Moment auf den anderen dieser intensive, aber nicht aufdringliche, süße und zugleich zarte Duft von Blüten in der Luft.
Erst dachte ich an Jasmin.
Seit ich in Italien lebe, kenne ich es von Jasmin, dass er in bestimmten Momenten, oft gegen Abend, urplötzlich seinen feinen Duft verströmt. Jasmin blüht jedoch erst Anfang Juni.
In diesen Tagen, die so gleichtönig verrannen, riss mich selten etwas aus dem tristen Einerlei, aus Gedanken, die schon wieder nur um die nächste Mahlzeit kreisten. Diesmal legte ich mein Strickzeug auf den Terassentisch, atmete tief ein, stand auf und lehnte mich über das Geländer. Ich suchte in den Grünanlagen unseres Hauses und in denen der Nachbarn. Ich konnte nichts Verdächtiges entdecken, bis mein Blick höher kletterte und den Waldrand streifte. Da! Im frischen Grün sah ich einzelne unscheinbare, cremeweiβe Blüten, die wie Weintrauben-Dolden in den Bäumen hingen. Waren sie es, die die laue Frühlingsluft verzauberten?
Unser Condominio, wie Mehrfamilienhäuser in Italien genannt werden, heißt „Condominio delle Robinie“. Robinien. Sie waren es wohl, die unser Haus säumten und jetzt zu blühen begannen. Aber warum hatte ich in den 15 Jahren, die wir hier wohnten, nie zuvor diesen faszinierenden Duft wahrgenommen?
Weil in diesem Jahr alles anders war.
Im Jahr 2020.
Ein Kommentar zu “Geschärfte Sinne”