Alexanderplatz

Kommt ein Italiener auf den Berliner Alexanderplatz … nein, ich erzähle euch keinen Witz. Man sagt tatsächlich, dass zumindest die älteren Jahrgänge italienischer Touristen, wenn sie das berühmte Pflaster in Berlin Mitte betreten, dasselbe vor sich hinmurmeln bzw. summen: „Auf Wiedersehen!“ Nun könnte man meinen, es handelt sich nur um eine falsche Übersetzung und sie würden eigentlich „Hallo!“ oder „Guten Tag!“ sagen wollen. Schließlich gilt bei ihnen „Ciao!“ als Grußformel für die Begegnung genau wie für den Abschied. Doch so ist es nicht. Solltet ihr einmal Zeuge einer solchen Szene werden, wisst ihr, dass der italienische Berlinbesucher in Gedanken ein Lied singt: Alexanderplatz von Milva. Da heißt es nämlich im Refrain: Alexanderplatz, Auf Wiedersehen!

Als ich Kind war, gab es zwei Sängerinnen aus dem kapitalistischen Ausland, die im DDR-Fernsehen auftreten durften und mich mit ihrem exotischen Aussehen beeindruckten (Sandra Mo war ja keine Ausländerin). Die eine groß und blond, manchmal mit langen schwarzen Handschuhen und immer männlich tiefer Stimme: Amanda Lear. Die andere eine wahre Diva mit leuchtend roter Mähne und so kraftvoller wie sinnlicher Stimme: Milva. Eine Italienerin, die zum Frauenbild meines Landes passte, verkörperte sie doch den Inbegriff einer selbstbewussten Persönlichkeit, die weiß, was sie will und wo sie steht. Nicht am Herd, soviel war klar. Ihren Beinamen „La Rossa“ trug Milva (bürgerlich: Maria Ilva Biolcati) nicht nur wegen der beeindruckenden Haarfarbe, sondern auch wegen ihres politisch links orientierten, antifaschistischen Engagements. Obwohl die Tochter aus einfachsten Verhältnissen in Italien mit Schlagern und Chansons und nicht zuletzt ihren Brecht-Interpretationen am Mailander Theater unter Regisseur Giorgio Strehler bekannt war, genoss sie noch größeren Erfolg im Ausland, ganz besonders in Deutschland. Milva sang in fast akzentfreiem Deutsch. Ihr „Hurra, wir leben noch“ hatte ich als kleines Mädchen, das leider oft zum Zahnarzt musste, zu meiner Tapferkeitshymne gewählt.

Als ich viele Jahre später hier in Italien mit meinem Mann die Künstler und Künstlerinnen durchging, die wir auch in der DDR kannten, Namen wie Adriano Celentano, Gianna Nannini, Ricchi e Poveri, kam ich auf die Sängerin mit den roten Haaren. Mein Mann war überzeugt, ich müsse auch ihr berühmtes Lied „Alexanderplatz“ kennen, in dem es um das graue, trostlose Leben in Ostberlin im Schatten der Mauer geht. Der Text des bedeutenden Komponisten, Sängers und Liedermachers Franco Battiato handelt von einer Frau, die sich freiwillig aus dem Westen oder Süden, aus ideologischen Gründen oder der Liebe wegen – der Interpretation sind keine Grenzen gesetzt – für ein Leben in Ostdeutschland entschieden hat und die dort mit Augenringen dem dunklen, kalten Winter und der düsteren Atmosphäre, einem menschenunfreundlichen Leben trotzt, sich immer der Nähe der Berliner Mauer bewusst, die sie in vier Schritten zwar erreichen aber nicht überwinden kann.

Ti vedo stanca, hai le borse sotto gli occhi
Come ti trovi a Berlino Est?

(Du siehst müde aus, hast Schatten unter den Augen. Wie geht es dir in Ost-Berlin?)

Ich hörte das Musikstück zum ersten Mal und spürte sofort die Emotionen, die Milvas ausdrucksstarke Stimme und Interpretation weckten. Verständlich, dass mein Mann davon gerührt war. Ich informierte mich und fand mehr heraus: Ursprünglich 1982 aufgenommen, erlangte „Alexanderplatz“ im Jahr 1990 in Italien noch einmal eine neue Popularität, als die Künstlerin ihr Lied Unter den Linden vor dem Brandenburger Tor sang, in Direktschalte zur Fernsehsendung „Europa, Europa“ bei Rai Uno. Jetzt gab es die Berliner Mauer, das Symbol des kalten Krieges und der unüberwindlichen Grenzen nicht mehr und auch in Italien machte sich eine Euphorie des Aufbruchs und der Glaube an ein neues, friedliches Europa breit.

Mittlerweile sind 35 Jahre seit dem Mauerfall vergangen, um Europa steht es ausgesprochen schlecht und der Alexanderplatz ist nicht mehr das belebte und beliebte Zentrum von Ostberlin, sondern eine ewige Baustelle, geprägt von Verkehrschaos, Gestank, Drogenkonsum und Obdachlosen. So berichtete es auch unsere Tochter, mit ihren 17 Jahren jetzt genauso alt wie ich im Herbst 1989, nach einem Monat Erasmus-Programm, von dem sie Anfang Oktober begeistert und mit überwiegend positiven Eindrücken aus der deutschen Hauptstadt zurückkam. Sicher sind nicht wenige Italiener enttäuscht von dem berühmten Platz, den man als Berlin-Tourist gesehen haben muss und den Milva in ihrer unsterblichen Hymne besang. Aber die Freiheit, die man in den 80er-Jahren zurecht vermisste, hatte ihren Preis. Im Osten Berlins gab es keine bunte Werbung und weniger Leuchtreklame, aber das Leben war deshalb nicht grau. Das sind Ambivalenzen, die zeitgeschichtliche Veränderungen mit sich bringen und mit denen sich alle schwer tun, für die es nur schwarz oder weiß geben kann. Ich habe vor ein paar Tagen in der ARD-Mediathek noch einmal „Good Bye, Lenin!“ gesehen, den Film, der all das Humorvolle und Tragische, die menschlichen Dimensionen des Umbruchs so genial auf die Leinwand brachte.

Und was diesen einen, vielzitierten Ort in Berlin betrifft, mit dem für mich viele persönliche Erinnerungen verbunden sind, sage ich mit unverbesserlicher (N)ostalgie: Alexanderplatz, Auf Wiedersehen!

Titelfoto von Pexels.

Veröffentlicht von Anke

La Deutsche Vita in Bella Italia auf meinem Blog tuttopaletti.com. Geboren in der DDR, lebte ich zunächst im wiedervereinigten Deutschland und habe in Norditalien meine Heimat gefunden. Ein Leben zwischen den Welten und Kulturen, schreibend, lesend, neugierig und immer auf der Suche nach neuen spannenden Geschichten.

32 Kommentare zu „Alexanderplatz

  1. Neulich ist ein Gemüselaster in die Weltzeituhr gerammelt und hat sie etwas verbeult, sie wird aber wieder restauriert. Wenn du mal in Berlin bist, dann lass uns da treffen. Aber danach gehen wir woanders hin.

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    1. Das ist unerhört! Was hat der da gesucht, unter der Weltzeituhr müsste doch eine Fußgängersperrzone sein, ich meine, Touristentreffpunktzone, also für Autos gesperrt, nein?
      Und klar, so machen wir das! 👍

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      1. Der Fahrer hatte bestimmt eine Sonderzufahrt Genehmigung des Types ABC -0815 -4711, Paragraph 74 Absatz B.

        Nur hätte er beim Befahren des Geländes mal besser nicht auf sein Handy gucken sollen, sondern nach oben.

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      2. Gut möglich. Und der LKW hatte oben keine Rückfahrkamera. Sie müssen einen Absatz C aufnehmen, wo dieses Requisit zur Pflicht erhoben wird. Und Handyverbot.

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    1. Ja, sie war natürlich bekannt. Sie hatte insgesamt 15 Auftritte beim Festival Sanremo. Als sie 2021 mit 81 Jahren starb, liefen hier Sendungen und Dokumentationen zu ihren Ehren und mancher wurde sich vielleicht erst da bewusst, wie berühmt und beliebt sie im Ausland war.
      Danke und liebe Grüße zurück!

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      1. Damals, meine ich. Als Kind musste ich mir immer Mut machen und anschließend ging es zur Belohnung an den See Enten füttern. 😄 Danke und liebe Grüße für ein sonniges Wochenende!

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  2. Vielen Dank für diese Erinnerungen an den Alexanderplatz und vor allem an Milva. Ich kenne das Lied sehr gut, ich kenne den Alexanderplatz von mehreren Besuchen in Berlin. Es hat sich soviel verändert, leider nicht zum Positiven, wie Du auch schriebst. LG M.

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      1. Die ganze Familie meines Mannes kommt aus Berlin, meine Schwiegermutter hatte dort ein großes Mietshaus, das leider nicht mehr existiert. Sie besuchte mindestens einmal im Jahr die Stadt und kam danach aufgelebt zurück. LG Marie

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  3. Für mich ist der Alexanderplatz auch eher ein Platz, um sich dort NICHT aufzuhalten. 😉
    Mein Bruder arbeitet dort zurzeit noch in der Bahnhofsbuchhandlung. Der erzählt vielleicht Geschichten!!! Berlin live. Darüber kann man ganze Bücher schreiben.
    PS Es freut mich zu lesen, dass deine Große eine gute Zeit in meiner Heimatstadt hatte! 🙂
    PPS Und „Good Bye, Lenin!“ müsste ich auch mal wieder anschauen. Den Film fand ich sehr gut.

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    1. Der Bahnhof, S-Bahn und U-Bahn … ein bisschen unübersichtlich war er schon immer, ich erinnere mich auch an kleine Geschäfte … rede hier aber von DDR-Zeiten und kurz danach. Sicher ist alles umgebaut worden und noch viel chaotischer jetzt.
      „Good Buy, Lenin!“ sah ich übrigens das erste Mal hier im Kino, in italienischer Fassung. Das war schräg, ich versuchte, den anderen bestimmte Situationen zu erklären, war aber selbst unsicher, ob ich alles richtig verstanden hatte oder ob die Adaption immer so ganz passend war. Hoch lebe das Medium Mediathek!😃

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      1. Von damals kenne ich den Alex natürlich nicht oder zumindest nicht gut, wie du ja weißt. Vielleicht waren wir einmal „drüben“ auf dem Weihnachtsmarkt? Das kann schon sein.
        35 Jahre Mauerfall. Das ist schon irre, oder?

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      2. Ja, das ist ein halbes oder, hoffentlich, Drittel vom Leben. In Berlin machen sie ja wieder einiges zu diesem Anlass, habe ich gelesen. Mach mal Fotos, falls du davon was siehst. Liebe Grüße!

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  4. Danke für diesen Beitrag! Ich habe wieder etwas Neues gelernt, nämlich das Lied.
    Milva ist mir als Sängerin ein Begriff, aber das Lied kannte ich bisher nicht und ihr Tod ist mir entgangen.
    Meine Mutter hat ihre Kindheit und Jugend in Berlin verbracht und sie erzählte mir einmal, dass die Weltzeituhr am Alex ein sehr beliebter Treffpunkt war.
    In meiner Kindheit gehörte es zur Selbstverständlichkeit, jedes Jahr einmal nach Berlin zu fahren. Seitdem ich nach Wien gezogen bin, ist es schwierig geworden und daher freue ich mich auf meinen nächsten Berlin-Besuch.
    „Goodbye Lenin“ sah ich das erste Mal im Herbst 2002 im Kino und als die DVD erschien, wurde sie gekauft. Bei meinem letzten Besuch bei meinen Eltern haben wir uns den Film wieder angesehen. Nach wie vor lautet das Prädikat: „Wertvoll“.

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    1. Schön, dass ich dir etwas Neues, für dich Interessantes schreibend erzählen konnte.
      Na klar, nach Berlin fuhr man gern. Meine Schwester kam sogar einmal monatlich aus Dresden und nutzte ihren Haushaltstag zum Einkaufen.
      Liebe Grüße nach Wien!

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      1. Deine Beiträge sind stets interessant und erweitern meinen Horizont. Zum aktuellen habe ich (wieder) einen persönlichen Bezug entwickeln können, da ich einiges intensiver nachfühlen kann.
        Ich schicke Dir liebe Grüße zurück!

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  5. Auch ich kannte das Lied bisher nicht. Werde es mir gleich anhören. Dafür kenne ich den Alexanderplatz zu gut, denn 9 Jahre lang musste ich ihn täglich auf dem Weg zu meiner Arbeitsstelle im Senat überqueren. Bis zum letzten Tag habe ich es gehasst. Der Platz hat für mich eine wirklich schlechte Ausstrahlung. Er ist eine einzige Betonwüste. Das ist schade, man könnte sie viel aus dem Platz machen. Es gibt aber auch lustige Erinnerungen, die ich mit dem Platz verbinde. Nach der Arbeit hat mir eine Kollegin eines Tages ein Päckchen mit Blumensamen in die Hand gedrückt und gesagt „Komm, wir machen Guerilla Gardening“. Das waren die kleinen Fluchten, um der schlechten Aura des Platzes zu entfliehen. Liebe Grüße aus Berlin, nicht vom Alexanderplatz, Roswitha

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    1. Danke, liebe Roswitha, für deine persönlichen Gedanken zum Thema.
      Der Kommentar war im Spam gelandet, deshalb wird er erst heute verspätet sichtbar. Liebe Grüße!

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