Verbotene Blicke
Der Blick in den sogenannten goldenen Westen bot sich mir als Kind aus dem grauen Osten immer sonntags, wenn wir mit der S-Bahn zu Oma nach Berlin Adlershof fuhren. Da tauchte er kurz nach der Haltestelle Baumschulenweg einen Moment lang auf. Meine Mutter sagte dann jedes Mal:
Da drüben, die weißen Hochhäuser, das ist der Westen.
Oder sprach sie von Westberlin? Egal! Westen, Westberlin, sie hätte dafür auch „der Mond“ sagen können. Für mich war es das Gleiche. Drüben, das war die bunte, gefährliche Welt aus dem „Schwarzen Kanal“. Die Welt, in die ich nie käme und in die ich nie wollte. Der schöne Schein der Leuchtreklamen, die glanzvollen Waren, die sich einfache Leute gar nicht leisten konnten. Dieser ganze kapitalistische Beschiss eben.
Wenn wir kurz vor Omas Wohnung um die Ecke bogen, versicherten wir uns immer gewissenhaft, dass kein West-Auto vor ihrer Haustür stand. Dann hätte sie Besuch gehabt, dem wir nicht begegnen durften. Mein Vater als Offizier musste solche zufälligen Begegnungen im Ministerium der Nationalen Verteidigung berichten und rechtfertigen. Eine Prozedur, die er des Aufwands und absehbarer Konsequenzen wegen streng vermied. Dass Oma Kontakte zu Bekannten in der Bundesrepublik hatte, konnten wir nicht ändern, aber erfolgreich ausblenden. Mir gelang das leicht. Wie es meiner Mutter damit ging, kann auch ich mir nur schwer vorstellen. Sie musste ihren Bruder ausblenden.
Tragische Abschiede
Oma starb zu früh. Sie hat nicht mehr erfahren, dass Deutschland wiedervereinigt wurde. Zu Omas Beerdigung im Jahr 1988 sah meine Mutter ihren Bruder wieder, nach dreißig Jahren. Er war nach der Kriegsgefangenschaft nicht nach Berlin zurückgekehrt, sondern zu einer Frau im Westen Deutschlands gezogen. Als Mutti und ihr Bruder sich nach dem unverhofften Wiedersehen trennten, teilten sie nicht nur die Trauer um den Verlust ihrer Mutter, sondern vor allem das flaue Gefühl und die Frage:
Und wir beide, wann treffen wir uns wieder? Erst am Grab des jeweils anderen?
Da uns Westkontakte verboten waren, gab es nun, nach Omas Tod, keine Verbindungsperson mehr. Aber meine Eltern fanden eine Lösung. Auch wenn diese faktisch eine Unterwanderung der offiziellen Regeln für Armeeangehörige und staatsnah Bedienstete bedeutete. Sie vereinbarten, über eine Bekannte in Omas Haus weiter Kontakt zu halten. Mein Onkel schickte seine Westpakete nun an diese Adresse. Wenn Mutti nach Berlin fuhr, um das Paket abzuholen, rief er bei dieser Gelegenheit an. Nicht auszudenken, was uns gedroht hätte, wenn das aufgeflogen wäre! Aber diese Gefahr bestand nicht mehr lange, denn schon bald geschahen Dinge, die wir uns im Jahr 1988 selbst in unseren verbotensten Träumen nicht ausgemalt hatten. Ein Jahr später gab es freie Fahrt über die Grenzen für alle, besser gesagt, die Grenze wurde ganz abgeschafft.
Trinkfeste Unterschiede
Als mein Onkel und seine Frau uns 1990 das erste Mal in Strausberg besuchten, traten die kulturellen Unterschiede bereits am Mittagstisch zutage. Mutti hatte stolz die vollen Teller aufgetischt, aber es entging ihr nicht, dass unsere Besucher irritierte Blicke wechselten. Dann rang sich die Frau meines Onkels durch und fragte:
Könnten wir wenigstens etwas Wasser dazu haben?
Wir hatten nichts zu trinken hingestellt, denn, so absurd es heute klingt, das war bei uns daheim nicht üblich. Getrunken wurde nicht formal zu den Mahlzeiten, sondern wenn man Durst hatte. Logisch, oder? Und banales Wasser gab es schon gar nicht. Limonade, Bier, für uns Kinder manchmal Himbeer- oder Waldmeistersirup in Leitungswasser. Aber nicht bei Tisch zum Essen. Am Wochenende tranken die Erwachsenen abends (süßen) Wein oder Sekt, aber auch den nicht zum Essen, sondern anschließend vor dem Fernseher. Zu Feiertagen ergänzt mit Erdnussflips und Salzstangen. Wer Glück hatte und es sich leisten konnte, bei dem kam Ananas aus der Dose in den Sekt. Welch ein Spaß, die kleinen Stückchen mit bunten Plaste-Cocktailspieβern aus dem Glas zu fischen. Ich schätze, in Westdeutschland wählte man indes schon immer das gepflegte Bier oder das ausgesuchte Glas Wein passend zum Essen. Wer es besser weiß, der melde sich bitte, vielleicht irre ich mich ja.
Unbeschwerte Begegnungen
Es muss Ende des Jahres 1990 gewesen sein, da kamen westdeutsche Wehrdienstleistende in die ehemaligen Kasernen der Nationalen Volksarmee. So traf ich Martin (Name geändert, hoffentlich, ich erinnere mich nicht). Martin kam aus Bonn und absolvierte in Strausberg seinen Pflichtwehrdienst. Westsoldaten in Strausberg, der ehemaligen Hauptstadt der NVA, das war in jenen Tagen noch exotisch und aufregend. Also konnte ich nicht ablehnen, als mich der charmante Martin am Samstagabend nach einem Tanz in der Disko fragte:
Zeigst du mir dein Ostberlin?
Es wurde mein erstes Date mit einem Wessi und mein erster deutsch-deutscher Sonntagsausflug als Stadtführerin. In der Alten Nationalgalerie Berlin interessierten Martin allerdings weniger die antiken Gemälde als meine Erzählungen aus dem realsozialistischen Alltag. Er fand meine Schilderungen unheimlich lustig. Und ich genoss es, ihn zum Lachen zu bringen. Die Museumsbesucher mussten glauben, wir wären schon am helllichten Tage besoffen gewesen. Als ich den für mich gewöhnlichen Begriff Beutel oder Einkaufsbeutel erwähnte, war er nicht mehr zu beruhigen. Ich war ernsthaft besorgt, er würde sich vor Lachen in die Hose machen. Aber Martin lachte nicht nur über den Osten und das, was ich ihm davon aus erster Hand berichtete. Er steuerte auch Anekdoten aus seinem Leben bei, die für mich genauso unglaublich klangen. Und dann dieses Wort, das er in jedem zweiten Satz benutzte: voll. Das ist voll anstrengend, voll gut, voll aufregend, voll lustig. Auf der Heimfahrt, etwas müde in der nächtlichen S-Bahn, die in Richtung Endhaltestelle Strausberg Nord immer leerer wurde, kam es dann:
Das ist ja voll leer hier.
Mehr ging nicht. Wir hielten uns die Bäuche vor Lachen.
Das war voll schön, mein erstes Date mit einem Wessi. Etwas Ernstes ist es mit Martin übrigens nicht geworden. Aber ich erinnere unser Erlebnis als einen gelungenen unbeschwerten Auftakt für (meine) deutsch-deutschen Beziehungen.
Foto: Aus der ZDF-Dokumentation „Der wilde Osten, Teil 2“. Unser Wohnblock in Strausberg, aufgenommen Anfang der 90er-Jahre, kurz bevor die Fassade neu gestrichen wurde und das sozialistische Wandgemälde für immer verschwand.
Ja, so war das. Die weiße Häuserreihe hinter den Kleingarten, war unerreichbar nahe und ein wenig „sichtbarer“ Westen. Heute weiß ich, dass die Ecke Gropiusstadt heißt (glaube ich) und ich da nicht unbedingt aufgewachsen sein möchte.
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Schöner Bericht. Also bei uns im Westen gab es zum Essen auch nie etwas zu trinken, es hieß, dann würde der Bauch voll und man könnte den Teller nicht mehr leer essen;-)
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Danke. Ja, so war sicher auch die Argumentation unserer Eltern. Womöglich hatten sie recht? Aber heutzutage geht es weniger ums Sattessen als ums Genießen. Oder gar ums Kalorien Vermeiden, indem man vorher entsprechend viel Wasser trinkt. Andere Zeiten, andere Sitten.
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Ja genau, wir trinken jetzt auch beim Essen und Kalorienvermeiden ist förmlich zur Seuche geworden.
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Ich war 1985 zum ersten Mal zu Besuch im „Westen“ – ich fand es alles viel zu laut, zu bunt, zu hektisch, zu viel Angebote für einen Artikel und so – erstrebenswert fand ich es nicht, dort zu leben. – Bis 89 hatte ich dann mindestens einen Anlass pro Jahr, wo ich mich dort umsehen konnte. Meine sehr wohlhabende Schwägerin war der Geiz in Person. Und der Kontakt zu meinem sehr viel älteren Halbbruder wurde höchstens von seiner Seite aus behindert, denn er war stellv. Polizeipräsident in einer Großstadt in Nordrhein Westfalen.
Nach der Wende habe ich dann intensiv nur Westmänner kennen gelernt – und wäre mein Lieblingsmensch nicht gestorben, dann würde ich jetzt in Hamburg leben.
Sein Lieblingswort für die DDR war „Dunkeldeutschland“ – aber mit ihm konnte ich auf Augenhöhe diskutieren – sonst hätte er keine Chance gehabt.
Ja ja, die deutsche Einheit – ganz schön über das Knie gebrochen!
Lieben Gruß zu dir
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Danke, liebe Clara, für deine Erinnerungen an „Westkontakte“. Die Unterschiede waren schon enorm, aber nach 40 Jahren in so extrem gegensätzlichen Systemen und Kulturen auch mehr als verständlich. Umso schöner, wenn es die positiven und rücksichtsvollen Annäherungen auf persönlicher Ebene gab. Wir Jugendlichen damals hatten es in jedem Fall leichter, dessen bin ich mir bewusst.
Nochmal schöne Grüße für den Restsonntag!
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Man hört auch heute wieder, dass man während des Essens nicht trinken soll, aus gesundheitlichen Gründen. Der Genuss stand eben der Gesundheit schon immer im Weg und umgekehrt. Als wir das erste Mal nach Westdeutschland fuhren, gab es dort nur Wasser zu trinken. Das kannte ich nur von meinem Vater, der Diabetiker war. Inzwischen haben wir diese Trinkgewohnheit vom Westen übernommen, zum Glück – wegen der Gesundheit eben 😜. Mein Sohn sammelt Worte, die typisch ostdeutsch sind und freut sich immer sehr, wenn er wieder eines zu hören bekommt.
LG Bettina
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Wassertrinken war tatsächlich eine Unvorstellbarkeit bei uns. Tee, Limo, Sirupwasser … Ach ja, mein Vater trank „Selters“, so sagte er, weiß gar nicht, wie das offiziell hieß. Also Sprudelwasser. Stilles? War zum Waschen da.😂
Mit ostdeutschen Worten könnte ich deinem Sohn Freude machen, habe damals für mein Buch Extremtauchen in der Erinnerung betrieben und auch recherchiert, herrliche Begriffe. Da gab es aber auch welche, die ich beim besten Willen nicht in den Text schreiben konnte. Hieß etwas toll finden bei euch in Frankfurt/Oder auch „Das ist schau“?
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Ja, schau und die Extremvariante ’schau ejh‘ und statt sehr ‚urst‘ urst schön, wofür deine Westbekanntschaft ‚voll‘ nutzte😄
Ja, Selters hieß das. Mein Vater bekam „hinten herum“ Lauchstätter Heilbrunnen. Wasser in Flaschen war immer mit Kohlensäure. Stilles Wasser nur aus der Leitung. Was sollten die Umstände 😉
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Bei „urst“ laufen mir kalte Schauer über den Rücken.😂 Ich behaupte, es nie gebraucht zu haben.
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Ich behaupte, weder urst noch schau gebraucht zu haben 😅, geht mir genauso mit dem Schauer.
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Das sind ja voll schöne Erinnerungen!
Aber „Beutel“ oder „Einkaufsbeutel“ sag(t)en wir in Bayern auch.
Und so Wandgemälde an Wohnhäusern sehe ich manchmal noch in kleinen Dörfern in Bayern. Allerdings sind es dann entweder landwirtschaftliche und/oder christliche Motive.
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Aber so was von! (So würde er womöglich heute sagen.)
Tatsächlich? Ich dachte, es gab damals, Ende der 80er, Anfang der 90er, nur Tüten. Aber jetzt sind Beutel, vor allem aus Bio-Baumwolle, ja überall in Mode.
Ja, die Wandgemälde in Bayern durften bleiben. Das ist der Unterschied. Aber auf denen war ja auch kein den Frieden beschützender Soldat der Volksarmee drauf.
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Bei uns – ich komme aus so einer Öko-Hippie-Familie -, gab es damals schon Jute-Beutel.
Am besten bedruckt mit irgendwas gegen Kernkraft oder für Abrüstung.
Von diesem angeblich so langlebigen und robusten Material hat irgendwie doch nichts überlebt.
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