Immer, wenn wir mal wieder bis ganz zuletzt nicht wissen, wohin wir im Sommer verreisen wollen, denke ich an die Sommerferien meiner Kindheit zurück. Wie einfach es war, und wie schön. Meine Eltern und ich, das Nesthäkchen, fuhren jedes Jahr Ende Juli oder Anfang August für zwei Wochen in einen Bungalow am See. Erst war es der Storkower, dann ein paar Jahre lang der Kleinköriser See. Von Strausberg aus fuhren wir nie länger als eine Stunde, um unser Urlaubsdomizil südlich Berlins zu erreichen. Obwohl ich präzisieren muss, dass wir gefahren wurden. Von netten Bekannten, denn meine Familie besaß kein Auto. Höre ich den Einwurf, wir hätten auch am schönen Straussee bleiben können? Nein, wo wir wohnten, hatten wir keinen Bungalow und heute erkläre ich es einfach mal so: Wir fuhren in den Süden!
Bevor wir in diesem Sommer in den Westen aufbrachen (von der Lombardei ins Piemont), fielen mir zwei Urlaubstagebücher von damals in die Hände, die meine Eltern liebevoll aufbewahrt hatten. Ich schrieb sie mit zehn und elf Jahren, in schönster Unterstufen-Schreibschrift. So kurz vor dem eigenen Urlaub spürte ich Lust, in den Heften zu blättern und lud unsere Jüngste dazu ein. Eigentlich hat sie nie viel Geduld beim Anschauen oder Anhören von Mutters ollen Kamellen, aber diesmal geschah ein kleines Wunder und sie ließ sich beide Ferien von der ersten bis zur letzten Seite vorlesen. Ein Kapitel versuchte sie sogar selbst zu entziffern. Es gelang ihr recht gut, dabei war meine DDR-Schreibschrift nicht bei allen Buchstaben deckungsgleich mit ihrer italienischen. Wir hatten viel Spaß bei der gemeinsamen Lektüre, obwohl oder gerade weil ich oft unterbrechen musste, um ihr Worte und beschriebene Situationen zu erklären. Denkt nicht, es war ein einfaches Übersetzen vom Deutschen ins Italienische. Meine gar nicht so kindlich formulierten Urlaubserinnerungen zeichneten eine andere Welt. Da tauchten Wörter auf, die sie kennt, die damals eine vollkommen andere Bedeutung hatten. Lese ich meine Aufzeichnungen allein, klingen sie gar nicht komisch. Aber meine Tochter stolpert über Sätze wie: „Ich bekam ein Geschenk für meine Schwester.“ Bekommen steht heute für erhalten, und sie verstand nicht, wieso ich ein Geschenk bekam, das doch für meine Schwester war. An anderer Stelle waren wir in der Stadt und bekamen zwei schöne Hosen für mich und für Vati ein paar gute Schuhe. Halbschuhe aus braunem Leder, die „gar nicht so teuer“ waren, obwohl sie mit 45 Mark mehr als eine monatliche Wohnungsmiete kosteten. Auch das warf Fragen auf, die ich zu beantworten versuchte, ohne ihr Vorstellungsvermögen überzustrapazieren. Erkläre mal den Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus einem Kind, das allerhöchstens den Begriff „Kommunismus“, und zwar als Schimpfwort, kennt. Wenn Mama erzählt, wird an ganz privaten Erlebnissen deutlich, was Planwirtschaft und eine sogenannte bedarfsgerechte Produktion bedeuteten. Wir kauften damals nicht, wir bekamen. Wenn wir etwas bekommen konnten, das es nicht immer gab. Und wie wir uns freuten, wenn wir etwas bekamen! Da kann kein Shoppingerlebnis von heute mithalten.
Natürlich bescherten uns die Tage in der Bungalowsiedlung am See viele andere Freuden: Waldspaziergänge in die Pilze und Himbeeren, Besuche beim Bäcker im Ort, Baden, Rudern, Federball und Tischtennis, unser allabendliches Rommé-Turnier und jeden Tag auch „individuelle Freizeitbeschäftigungen“. So vornehm drückte ich es einmal aus, aber zumeist präzisierte ich, dass Mutti strickte, Vati Ansichtskarten schrieb und ich las. Oder eben Tagebuch führte.

Auch den Speiseplan hielt ich fest. Er fiel für gewöhnlich recht einfach aus, nahezu bescheiden nach heutigen Standards. Da gab es schon mal Bratwurst zum Mittag und Bockwurst zum Abendessen. Die eine mit Kartoffeln, die andere mit Schrippe. Wisst ihr, was eine Schrippe ist? Ich musste sehr lachen, als meine Tochter an Gamberi (Garnelen) dachte. Vielleicht, weil Schrippe so ähnlich wie Shrimps klingt? Bockwurst mit Meeresfrüchten, das wäre doch etwas Feines gewesen. Leider gab es weder Shrimps noch Garnelen, und wir mussten mit einem Brötchen Vorlieb nehmen, das in der Berliner Gegend Schrippe heißt. Einmal besuchten wir eine Broiler-Gaststätte und einmal eine Milchbar, kulinarische Kultureinrichtungen, die für eine kleine Italienerin besonders kurios klingen. Und was war bitte schön gemeint, wenn wir „in die Halle gingen, um nach Fleisch zu sehen“? Ein Schalk, der Böses denkt. Wir waren schließlich weder auf der Reeperbahn noch in einer Spielhalle. Halle sagten wir kurz für Kaufhalle. So hießen unsere Geschäfte für Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs, aus gutem Grund nicht Supermärkte genannt. Nach Fleisch sah man, weil man lediglich guckte, ob es welches (im beschriebenen Fall zum Grillen geeignetes) gab.
Wieder einmal wünsche ich mir, unsere Kinder würden den alltäglichen Luxus, in dem wir heute leben, ein klein wenig mehr wertschätzen. Und da denke ich nicht nur an die immer verfügbaren Südfrüchte und die Riesenauswahl an Joghurtsorten. Mir wird auch bewusst, dass ich meinen Italiener-Kindern selten einfach aus dem Deutschen ins Italienische übersetze. Ich muss, wenn es um Erinnerungen geht, heutige Worte mit ihrem früheren Sinn erklären. Einem Sinn, den diese Worte in meiner Kindheit hatten. In einem Land, das es nicht mehr gibt und dessen Realität zunehmend verklärt und banalisiert wird, ins eine oder andere Extrem.
Jede Dekade ist anders und hat nicht nur Vorteile.
Es kommt immer auf den Blickwinkel und/oder die damit (nicht) gemachten Erfahrungen an. 🙂
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Du sagst es. Und es ist interessant, die verschiedenen Erfahrungen auszutauschen. Ich denke, es gibt etwas, das Kindheitserinnerungen verbindet, egal wann und wo diese stattfand (von schlimmen Kriegs- oder Entbehrungszeiten einmal abgesehen): Wir erinnern uns gern daran und schätzen im Nachhinein das einfache Glück, das wir damals empfanden und mit dem wir uns heute zumeist schwertun.
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Ja, genau so sehe ich das auch. 🙂 Danke fürs Erinnern und hab ein schönes Wochenende, liebe Anke. Viele Grüße Bea
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Danke, das wünsch ich dir auch, liebe Bea!
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Schöne Erinnerungen und Denkanstöße wieder einmal, liebe Anke. Worte im Zusammenhang mit einer anderen Bedeutung als heute. Mir fiel ein, dass ich als Kind von meiner Tante zum Geburtstag eine Garnitur geschenkt bekam (Unterwäsche, bestehend aus einem Hemd und einem Schlüpfer) mit einer Kirsche darauf, und wie sehr habe ich mich darüber gefreut! Von meinen Eltern hatte ich mir einmal einen Stielkamm gewünscht, um ihn in die Gesäßtasche meiner Hose zu stecken. Das war mal Mode. Erinnerst du dich? Sommerliche Grüße, Bettina
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Garnitur ist auch so ein schönes Wort, ich hatte es bereits aus meinem Wortschatz gestrichen. Und nein, Stielkamm als „Statussymbol“ kannte ich nicht.😉 Danke für diese Beiträge, liebe Bettina. Liebe Grüße an dich aus dem auch noch hochsommerlichen Süden!
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Oh ja – du bist zu jung für Stielkamm – frag mal deine Schwester 🤣
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Ja, die Situation von einst ist heute oft kaum vermittelbar. Wenn dann noch ein Systembruch dazu kommt wirds nochmal schwieriger. Man erinnere sich nur an einige wenige Eckpunkte. In den 60ern begann die Verbreitung des Autos in der normalen Bevölkerung, Schwarzweiß-Fernsehgeräte gab es nur in einem Bruchteil der Familien und zum Telefonieren ging man noch in die Telefonzelle.
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Genau, lieber Horst. Wir gingen sogar in den 80er-Jahren noch in die Telefonzelle. Sehr selten, denn die, die wir anrufen wollten, hatten meist auch kein Telefon. Unglaublich, oder? Wie machte man einen Arzttermin aus? Man ging wohl hin. Aber das muss man zuweilen noch heute in Italien, wenn man einen Termin über das staatliche Gesundheitssystem möchte. Da muss man mit der Überweisung persönlich vorstellig werden. Per E-Mail? Die Überweisung scannen? Nein, nein, das ist nicht möglich.
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Wie herzig, das mit der Schrippe und den Shrimps! 🙂
Ich habe das Gefühl, dass sich fast immer große Lücken zwischen der Eltern- und der Kindergeneration auftun: Meine Kinder wachsen ganz anders auf als ich, ich bin anders aufgewachsen als meine Eltern, die wiederum anders als ihre Eltern. Für bestimmte Situationen/Erinnerungen braucht es wahrscheinlich immer eine Übersetzung, gar nicht mal nur vom Italienischen ins Deutsche.
Meine Eltern, mein Bruder und ich sind über die Transitstrecke von (West-)Berlin aus nach Dänemark gefahren – wie willst du das heute noch so eindrücklich schildern, wie es war? Das Kontrollieren der Reisedokumente, das Filzen der Autos? Die Menschen am Fähranleger in Sassnitz, diesseits und jenseits des Zauns?
Ich denke mir auch oft genug, dass ich mir wünschen würde, dass meine Töchter den alltäglichen Luxus mehr zu schätzen wüssten. Vielleicht tun sie das ja auch, auf ihre Art. Ich kann ihnen wohl auch keinen Vorwurf machen, schließlich kennen sie es nicht anders. Ihnen fehlt der Vergleich.
Ich finde es herzig zu lesen, dass sich schreibundsprich über eine Garnitur gefreut hat. Mir ging das als Kind auch so, dass mich solche Sachen froh gemacht haben. Auch im Westen gab es lange Zeit kein H&M oder so, Unterwäsche für mich hat meine Mutter aus dem Quelle-Katalog ausgesucht. 🙂 (Katalog!!!)
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Na eben, liebe Sophie. Du hast auch Spannendes zu erzählen, das deinen Kindern „spanisch“ vorkommen muss. Transitstrecke, bitte was? Habt ihr euch als Kinder denn in Westberlin wie auf einer Insel gefühlt, oder gar eingesperrt? Das muss mindestens so krass gewesen sein wie für uns, dass wir von Ostberlin aus die hohen Häuser bei euch sahen und die waren so nah und doch in einer Welt, für uns unerreichbar entfernt wie der Mond. Ihr konntet zumindest durchfahren, durch das andere Deutschland. Klar waren da die Eindrücke sehr einseitig auf Grenzkontrollen und eventuelle Schikane beschränkt. Das muss sich gruselig angefühlt haben als Kind.
Oh ja, das Blättern in der großen Welt der Versandkataloge hatte was. Wir durften das auch noch ein paar Jahre lang genießen.😄
Herzliche Grüße nach Berlin! Wie schön, dass man das heute so sagt, ohne es in Gedanken in West und Ost zu teilen.
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Ja, wie schön! Das finde ich auch. Jetzt nutzt man es nur noch als geografische Angabe, wobei ich das immer sehr vorsichtig formuliere. Soll auf gar keinen Fall nach West und Ost klingen. 😉
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Wie schön ist das gezeichnet und mit einer wirklich kunstvollen Unterschrift versehen! Das ist ja eine gemalte Bilderbuchgeschichte, aus der man ablesen kann, was das Wort „bekommen“ damals bedeutete. Denn man könnte sich – besonders in der damaligen DDR – glücklich schätzen, wenn man überhaupt etwas in den ziemlich leeren Regalen bekam, also kaufen konnte, für wenig Geld. Das Angebot war eben so knapp.
Wir wohnten zwar im Westen, bzw. eher im Norden. Da die väterliche Familie aus Ostdeutschland stammte, die mütterliche aus dem Westen, waren wir auch manchmal in Ostdeutschland, auch zur DDR-Zeit, zu Besuch..
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In unserer heimischen Kaufhalle waren die Regale einmal so leer, dass mein Schwager sich dazu hinreißen ließ, die armen unschuldigen Verkäuferinnen zu provozieren indem er fragte, ob der Laden umzieht. 🙈
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Wer da noch Humor hat, dem geht es besser.😊🤚
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Was für ein spannender Rückblick, liebe Anke! Da war auch für mich Schweizerin einiges neu, obwohl wir ebenfalls viel einfacher aufwuchsen als die heutigen Kinder (ich habe Jahrgang 1944!). Liebe Grüsse, Elisa
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Danke, liebe Elisa. Es freut mich, dass du es gern gelesen hast. Ich wünsche dir einen angenehmen Sonntag!
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